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Nr. 34 vom 25. August 2019 10. Sonntag nach Trinitatis
Im Blickpunkt 3 Zur Person
Leonardo Boff (80) ist ein inter- national bekannter katholischer Theologe aus Brasilien. Er gilt als Hauptvertreter der Befreiungs- theologie und wirkte als Professor für Systematische Theologie und Ethik an der Universität Petrópolis (Rio de
Janeiro) sowie als Gastprofessor in Lissabon, Salamanca. Harvard, Basel und Heidelberg.
Boff hat über 90 Bücher veröffentlicht, darunter »Was kommt nachher? Das Leben nach dem Tode« (1982), »Kirche – Macht und Charisma« (1986), »Die Logik des Herzens« (1999) und »Kleine Sakramentenlehre« (2003).
Aufgrund seiner scharfen Kritik an hierarchischen und unde- mokratischen Kirchenstrukturen kam es 1984 zum Konflikt mit dem Vatikan, der ihn 1985 mit einem Jahr Bußschweigen bestrafte.
2001 erhielt er den Alternativen Nobelpreis für sein langanhaltendes Engagement für die Armen. Er lebt mit der Menschenrechtlerin Marcia Maria Monteiro de Miranda im ökologischen Reservat Jardim Araras bei Petrópolis.
»Mutter Erde«: Angesichts der fortschreitenden ökologischen Probleme ächzt die Erde und seufzt die Kreatur. Der brasi- lianische Theologe Leonardo Boff schlägt Alarm und mahnt, dass wir untergehen, wenn wir nicht umkehren. Die Erde soll heilig gehalten werden wie eine Mutter. Ein Gespräch über die Liebe zum Leben und die Hoffnung – trotz allem.
Herr Boff, Sie warnen seit vielen Jah- ren vor einer ökologischen Katastro- phe und fordern ein Umdenken. Nun kommt Greta Thunberg aus Schwe- den und findet Gehör. Spricht Sie Ihnen aus dem Herzen?
Leonardo Boff: Die Weisheit spricht durch ein Kind, so steht es an einer Stelle in der Bibel. Das heißt heute: durch Greta Thunberg.
Manche meinen allerdings, Thun- bergs Äußerungen seien zu »pa- nisch« und würden eine sachliche Debatte über den Umgang mit der Klimaerhitzung erschweren.
Wir können gar nicht schnell genug handeln und umkehren, weil sonst gar kein Rückweg mehr möglich sein wird. Die Klimaerhitzung ist da. Jeder kann sie selbst erfahren bei extremen Klimaereignissen. Das ist ein Zeichen dafür, dass die Erde ihr Gleichgewicht verloren hat und sie ein neues sucht, welches viele Opfer an Lebewesen und auch an menschlichen Leben mit einschließen kann.
Wieso reagieren Politik und Wirt- schaft so spät und so zögerlich? Weil alle Angaben der verschiedenen ökologischen Wissenschaften im Grunde das gegenwärtige System in Frage stellen. Sie verlangen eine ande- re Form der Produktion, des Konsums und der Verteilung der natürlichen Ressourcen, insbesondere aber eine andere Beziehung zur Natur und zur Erde – eine, die nicht von Angriff und Ausbeutung geprägt ist, sondern von Respekt und Achtsamkeit. Dass man
in eine Synergie und Kooperation mit den Rhythmen der Natur gelangt. All diese wissenschaftlich-ökologischen Erkenntnisse schaden allerdings der Kultur der Geschäfte und der gren- zenlosen Anhäufung von Reichtum. Es gibt nur die Alternative: Wir ändern uns oder aber wit gehen unter.
Es muss sich also ganz grundlegend etwas ändern?
Ja. Die weltweite Krise hat direkt mit der immer noch auf der ganzen Welt herrschenden Produktionsweise zu tun, nämlich der kapitalistischen. De- ren Dynamik führt zu einer beschleu- nigten Anhäufung von Reichtum in der Hand weniger auf Kosten einer erschreckenden Ausplünderung der Natur und der Verarmung der großen Mehrheit der Menschen. Wir müs- sen also die fatale Logik dieses Wirt- schaftssystems schrittweise überwin- den. Das Leben, und nicht das Wachs- tum, muss das große planetarische und auch nationale Projekt sein.
Haben Sie denn überhaupt noch Hoffnung? Ist ein Abwenden der Kli- makatastrophe noch möglich? Wenn ich mir die wissenschaftlichen Daten anschaue und die ungenü- genden Maßnahmen der Staaten an- gesichts der ökologischen Frage wahr- nehme, werde ich pessimistisch. Der große Soziologe Zygmunt Bauman hat uns gewarnt: Entweder wir arbeiten zusammen für die Bewahrung der Schöpfung oder wir vergrößern den Zug derer, die in Richtung ihres ei- genen Begräbnisses gehen. Als Glau- bender nehme ich aber die Aussage
des biblischen Weisheitsbuches ernst: »Gott ist ein leidenschaftlicher Lieb- haber des Lebens«. Ich hoffe, dass Gott das Leben bewahren wird, und er diese Katatrophe nicht zulässt.
Also resignieren Sie nicht?
Zu resignieren und nichts zu tun, wäre die schlechteste Haltung, die wir ein- nehmen können. Denn sie bedeu- tet einen Verzicht auf schöpferische Auswege. Wir sollten vor allem eine emotionale Verbundenheit zur Erde schaffen, dass wir mit Verständnis, Mitgefühl und Liebe für sie sorgen. Wir sind dazu aufgerufen, unser Em- pathievermögen auf alle Lebewesen auszudehnen, ja sogar auf den Boden, die Luft und das Wasser, die ebenfalls ein Teil von uns sind. Wir müssen wie- der erkennen, dass die Erde unsere Mutter ist.
Manche sagen allerdings, dass die Vorstellung der Erde als »großer Mut- ter« nicht christlich sei.
Dass die Erde die große Mutter ist, ist eine wissenschaftliche Feststellung. Alles, was existiert und lebt, kommt von der Erde. Sie schenkt uns alles, was wir zum Leben brauchen. Sie benimmt sich wie eine Mutter. Da- her ist die lebendige Erde, die Mut- ter Erde, ein Subjekt, dem Würde zukommt. Die UNO hat am 22. April 2009 nach einer langen Diskussion, an der ich selbst teilgenommen habe, be- schlossen, dass der »Tag der Erde« am 22. April künftig als »Tag der Mutter Erde« begangen werden soll. Mit der Anerkennung der Würde der Erde und ihrer Rechte beginnt eine neue Zeit,
eine Zeit der Biozivilisation, in der die gemeinsame Zugehörigkeit von Erde und Menschheit, ihr gemeinsames Schicksal anerkannt werden.
Der Mensch ist also selbst ein Stück Erde?
Ja, der Mensch ist selbst Erde in einem fortgeschrittenen Stadium ihrer Ent- wicklung. Mit dem Menschen begann gewissermaßen die Erde selbst auf- recht zu gehen, bewusst zu fühlen, zu denken, zu lieben, sich um andere zu sorgen und Ehrfurcht zu empfinden. Sich selbst als Erde zu empfinden heißt, sich in die irdische Gemein- schaft hineinzubegeben, in die Welt unserer Brüder und Schwestern ein- zutauchen, wie dies Franziskus von Assisi beispielhaft gelebt hat. Aus der tiefen Erfahrung der Mutter Erde wird wie selbstverständlich die Erfahrung Gottes als einer unendlich zärtlichen und sich erbarmenden Mutter er- wachsen.
Wie gelingt es Ihnen persönlich, die Vision eines nicht-zerstörerischen Lebens in Gemeinschaft mit allem Leben umzusetzen?
Ich versuche, den Geist des Heiligen Franziskus von Assisi zu leben und zu aktualisieren, da ich Franziskaner war und von Anfang an in dieser Spiritu- alität erzogen wurde. Ich bewundere jede Erscheinung des Lebens, ange- fangen mit den Ameisen, die oft durch mein Haus laufen bis zu jeder kleinen Blume des Feldes. Und ich versuche, mit immer weniger zu leben und eine besondere Sorge für die Armen zu tragen, die uns den Gekreuzigten vergegenwärtigen und um eine Aufer- stehung schreien.
Wie konnte denn die Menschheit dem ökologischen Kollaps so nahe kommen?
Die Väter der Moderne im 16. Jahr- hundert, wie Descartes, Bacon, New- ton und andere, betrachteten die Erde als etwas Totes, als eine Art Kasten von natürlichen Ressourcen, die zu unserer Benutzung zur Verfüngung stehen – und deren Reichtümer zur Ausbeutung da sind. Der Kern dieses Paradigmas war der Wille zur Macht über die Natur, über die Völker, über das ganze Lebensystems und über
die Erde. Daraus ist das moderne techno-wissenschatliche Paradigma entstanden, das so viele Vorteile für unser Leben geboten hat und zu- gleich zu unserer Tragödie geworden ist : diese Weltanschaung hat eine To- desmaschine geschaffen – mit nukle- aren, chemischen und biologischen Waffen –, welche das ganze Leben der Erde und die ganze Menscheit vernichten kann. Diesen Weg weiter- zuführen, würde den Selbstmord un- serer Menschheit bedeuten.
Was müssen wir heute tun?
Die Menschen müssen auf alle Ge- walt gegen die Ökosysteme der Erde verzichten und sich wieder als Glieder der Natur verstehen. Sie müssen den ethischen Auftrag erkennen, die Na- tur zu bewahren. Diese ökologische Bekehrung verlangt auch Papst Fran- ziskus in seiner Enzyklika »Laudato Si« als Bedingung für unser Weiterle- ben auf dieser Erde. Diese Bekehrung muss bei jedem Einzelnen beginnen: Jeder sollte bei sich selbst anfangen.
Und was wären global nötige Schritte?
Der Norden muss den Rückzug von seiner Konsumgier in Richtung Nach- haltigkeit antreten, um dem Süden eine nachhaltige Entwicklung in Har- monie mit der Gemeinschaft des Le- bens zu ermöglichen. Man sollte Ernst machen mit den sogenannten vier »W«: »Weniger«, »Weiter benutzen«, »Wiederverwerten« und »Wiederauf- forsten«. Anderenfalls vergrößern wir die Gefahr, keine Zukunft für unser Leben auf der Erde mehr zu haben.
Inwiefern müssen sich dabei auch Kirche und Theologie bewegen? Eine radikale ökologische Bekehrung ist nötig. Religionen und Kirchen ha- ben dabei eine pädagogische Aufgabe, nämlich der Menschheit ein neues Bewusstsein zu erwecken und die ethisch-spirituelle Mission zu über- nehmen, die Erde als die heilige Gabe Gottes zu bewahren und zu hegen, damit wir nicht alle mit unserer ge- meinsanen Wohung zugrunde gehen. Jedes Wissen, auch das theologische oder das religiöse, muss mit je seinen Mitteln dazu beitragen.
Das Gespräch führte Stefan Seidel
Gegen die Untergangsstimmung
Leonardo Boff hat mit seinem Buch »Zukunft für Mutter Erde« eine inhaltsstarke Zusammenfassung seiner ökologisch-theologischen Erkenntnisse der letzten Jahre veröffentlicht. Es ist ein Lehrbuch gegen den Untergang, in dem Boff das notwendige neue Verhältnis zwischen Mensch und Erde beschreibt. Dieses könnte nicht nur die ökologische Katastrophe abwenden, sondern auch zu einembewussteren Leben und einem neuen kirchlichen Aufbruch führen.
Leonardo Boff:
Zukunft für Mut- ter Erde. Warum wir als Krone der Schöpfung ab- danken müssen. Claudius Verlag 2012, 316 Seiten, 22,80 Euro.