Während der letzten Jahre habe ich ausführlich über das Thema “Achtsamkeit” geschrieben, vor allem in dem Buch “Achtsamkeit“. Über eine Technik oder Tugend hinaus ist Achtsamkeit u. a. eine Kunst und ein neues Paradigma des Respekts, einer liebenden, gewissenhaften und Anteil nehmenden Haltung der Natur und der menschlichen Beziehungen gegenüber. Ich habe an vielen Versammlungen und Konferenzen über Gesundheitsberufe teilgenommen, wobei ich die Gelegenheit zum Lernen und zum Reden fand, denn Achtsamkeit ist die natürliche Ethik dieser geheiligten Aktivität. Ich greife hier einige Gedanken auf, die mit der Haltung zu tun haben, die diejenigen einnehmen müssen, die sich zu Hause oder im Krankenhaus um Kranke kümmern. Wir wollen auf einige näher eingehen.
Mitgefühl: ist die Fähigkeit, sich in einen anderen Menschen zu versetzen und mit ihm zu fühlen, sodass der/die Kranke spürt, dass er/sie nicht allein mit seinem/ihrem Schmerz ist.
Liebevolles Berühren: Den anderen Menschen zu berühren heißt, ihm/ihr wieder die Sicherheit zu verleihen, dass er/sie der Menschheit angehört; das streichelnde Berühren ist eine Ausdrucksweise der Liebe. Krankheit ist oft ein Zeichen, dass der Patient kommunizieren möchte, reden möchte und jemanden braucht, der ihm zuhört. Der Kranke sucht nach dem Sinn seiner Krankheit. Die Krankenschwester und der Arzt oder die Ärztin können ihm helfen, sich zu öffnen und darüber zu sprechen. Eine Krankenschwester beschreibt es so: „Wenn ich dich berühre, trage ich Sorge für dich; wenn ich für dich Sorge trage, berühre ich dich … Wenn du alt und müde bist, kümmere ich mich um dich; ich berühre dich, wenn ich dich umarme; ich berühre dich, wenn du weinst; ich kümmere mich um dich, wenn du nicht mehr laufen kannst.“
Feinfühlige Hilfestellung: Der Patient braucht Hilfe, und die Krankenschwester/der Krankenpfleger möchte sich um ihn kümmern. Das Zusammenlaufen dieser beiden Bewegungen erzeugt Gegenseitigkeit und überwindet den Eindruck einer ungleichen Beziehung. Helfende Unterstützung hilft, eine gewisse Selbständigkeit zu bewahren. Hilfestellung muss umsichtig geschehen: den Patienten in dem unterstützen, was er kann, und etwas für ihn tun oder ihm helfen sollte man nur in Situationen, welche dieser nicht allein bewältigen kann.
Vertrauen ins Leben zurückgeben: Wonach der Patient sich am meisten sehnt, ist das verloren gegangene Gleichgewicht zurückzuerlangen und wieder gesund zu werden. Daher muss man entschlossen sein, dem Patienten wieder Vertrauen ins Leben zu verleihen sowie in seine inneren Energien: die physische, psychische und spirituelle, denn sie fungieren als wahrhafte Medizin. Es muss zu symbolischen Gesten ermutigt werden, die mit Zuneigung aufgeladen sind. Nicht selten entlocken die gemalten Bilder eines kleinen Mädchens in dessen Vater so viel Energie und neuen Mut, als hätte er die besten Medikamente eingenommen.
Dem Patienten helfen, die conditio humana zu akzeptieren: Normalerweise fragt sich der Patient überrascht: Warum musste mir das jetzt passieren, wo doch alles so gut für mich lief? Warum hat mich, da ich noch jung bin, diese schwere Krankheit überfallen? Warum zerbrechen durch die Krankheit Beziehungen in der Familie, im sozialen Umfeld und auf der Arbeit? Diese Fragestellung ist eine bescheidene Reflexion über die conditio humana, die stets unerwarteten Risiken und Verletzlichkeiten ausgesetzt ist.
Jeder Gesunde kann krank werden. Und jede Krankheit verweist auf die Gesundheit, die unser wichtigster Orientierungspunkt ist. Doch wir können nicht höher springen als unser Schatten, und wir können das Leben nicht anders willkommen heißen, als so, wie es ist: in Gesundheit und Krankheit, stark und zerbrechlich, leidenschaftlich für das Leben und eventuelle Krankheiten und schließlich auch den Tod akzeptieren. In solchen Momenten stellen die Patienten tiefe Reflexionen über das Leben an. Sie geben sich mit rein wissenschaftlichen Erklärungen (so notwendig diese auch sind) nicht zufrieden, die sie von den Ärzten erhalten. Vielmehr sehnen sie sich nach einem Sinn, der sich durch einen tiefen Dialog mit dem eigenen Selbst einstellt oder durch das weise Wort eines Priesters, Pastoren oder einer spirituellen Person. Sie nehmen dann ihre alltäglichen Werte wieder auf, die sie zuvor außer Acht gelassen hatten, definieren ihren Lebensplan neu und reifen daran. Und am Ende schließen sie Frieden mit sich selbst.
Den Patienten auf der großen Reise begleiten: Es gibt einen unausweichlichen Moment im Leben, da alle, selbst die ältesten Menschen der Welt, sterben müssen. Es ist das Gesetz des Lebens, dem Tod ausgesetzt zu sein. Dies ist eine alles entscheidende Reise. Man muss darauf durch ein Leben vorbereitet sein, das sich hat leiten lassen von großzügigen, verantwortungsvollen und nützlichen moralischen Werten. Dennoch wird von den meisten der Tod wie ein Angriff oder eine Entführung empfunden, der gegenüber man machtlos ist. Und schließlich begreift man, dass man für alles Rechenschaft ablegen muss.
Die diskrete, respektvolle Anwesenheit der Krankenschwester oder des Krankenpflegers, die/der da ist, um die Hand zu halten, tröstende Worte zu sprechen, den Patienten einzuladen, freudig dem Licht entgegenzugehen und in den Schoß Gottes, der Vater und Mutter der Güte ist, einzukehren, kann dem Sterbenden Hilfe sein, das Leben beruhigt und voll Dankbarkeit über das Erlebte zu verlassen.
Wenn der Patient religiös ist, flüstere ihm tröstende Worte des Hl. Johannes ins Ohr: Wenn dein Herz dich anklagt, bedenke, dass Gott größer ist als dein Herz. (1Joh 3,20). Der Patient kann sich dann beruhigt Gott überlassen, dessen Herz reine Liebe und Gnade ist. Sterben heißt, in Gottes Arme zu fallen.
Krankenpflege erweist sich hier viel mehr als eine Kunst denn als Technik und setzt beim Gesundheitspersonal eine Lebensdichte voraus, spirituelle Sinnhaftigkeit und eine Blickrichtung, die über Leben und Tod hinausgeht.
Diesen Zustand zu erreichen ist ein Auftrag, den die Krankenschwestern, -pfleger, Ärzte und Ärztinnen anstreben müssen, um wirklich ganz dem Leben zu dienen. Es steckt durchaus Sinn in all diesen weisen Worten: Die Tragödie des Lebens ist nicht der Tod, sondern dass wir innerlich sterben, während wir noch am Leben sind.
Siehe auch Leonardo Boff: Achtsamkeit, Von der Notwendigkeit, unsere Haltung zu ändern, Claudius, 2013
Übersetzt von Bettina Gold-Hartnack
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