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Die modernen Verfassungen basieren auf anthropozentrischen Gesellschaftsverträgen. Sie beziehen den natürlichen Vertrag nicht mit ein; die Vereinbarung und Wechselseitigkeit, die zwischen Mensch und lebendiger Erde bestehen muss, welche uns mit allem versorgt und für die wir sorgen und die wir erhalten. Aus diesem Grund wäre es selbstverständlich anzuerkennen, dass sowohl die Erde als auch die Lebewesen, die sie beinhaltet, einen Rechtsanspruch besitzen. Die klassischen Kontraktualisten wie Kant und Hobbes jedoch sprachen nur den Beziehungen zwischen Menschen einen Anspruch auf Ethik und Recht zu. Eine Verpflichtung der Menschen gegenüber anderen Lebewesen, vor allem gegenüber Tieren, erkannten sie nur im Sinn von Nichtzerstörung an oder der Verpflichtung, diese nicht unnötigen Qualen oder Grausamkeiten zu unterwerfen.
Durch das Fehlen der Anerkennung des jedem Wesen innewohnenden intrinsischen Wertes, der unabhängig von seinem Nutzen für die Menschen und seinem rationellen Nutzen ist, und dass er einen Rechtsanspruch darauf hat, innerhalb desselben gemeinsamen Hauses, dem Planeten Erde, zu leben, wurde ein Weg geebnet, die Natur als bloßes Objekt zu behandeln, sie bedenkenlos und teilweise bis zur Auslaugung auszubeuten. Nun aber fiel es Lateinamerika zu, wie Eugenio Raul Zaffaroni, ein bekannter Kriminalist und Richter am Obersten Gerichtshof Argentiniens, in seinem Werk „Pachamama und der Mensch“ (La Pachamama y el Humano, Verlag Colihue 2012) aufzeigt, eine konstitutionelle Theorie zu entwickeln, in der der Erde und allen natürlichen Lebewesen, insbesondere den Tiere und anderen Lebewesen, ein Rechtsanspruch zugebilligt wird. Sie müssen in den modernen Verfassungen berücksichtigt werden, die den tief verwurzelten Anthropozentrismus und das Dominus-Paradigma des Menschen als den Herren und dominierenden Herrscher über die Natur und über die Erde hinter sich gelassen haben.
Die neuen lateinamerikanischen Konstitutionalisten kombinieren zwei Strömungen: die traditionelle der indigenen Völker, die die Erde (Pacha) als Mutter (Mama) betrachtet, daher der Name Pachamama, und der Rechte zustehen, denn sie ist lebendig und gibt uns alles, was wir brauchen, und schließlich, weil wir ein Teil von ihr sind und genauso zu ihr gehören wie die Tiere, die Wälder, die Urwälder, die Gewässer, die Berge und die Landschaften. Ihnen allen steht ein Existenzrecht zu und das Recht, mit uns zu koexistieren, und sie bilden so die große Gemeinschaft und die kosmische Demokratie.
Sie verknüpfen diese Tradition ihrer Urahnen, eine Tradition der Anden-Kultur, die sich von Patagonien bis nach Mittelamerika erstreckt, mit dem neuen Verständnis, das sich von der zeitgenössischen Kosmologie, der Genetik und der Molekularbiologie herleitet und von der Systemtheorie, die die Erde als einen lebenden Superorganismus erachtet, der sich in einer Weise selbst reguliert (Maturana-Varela und Capras Autopoiesis), dass er stets danach strebt, das Leben und die Möglichkeit der Fortpflanzung zu erhalten und dass sich dieses gemeinschaftlich entfaltet. Diese Erde, genannt Gaia, umfasst alle Wesen und erzeugt und erhält das Netz des Lebens mit seiner unermesslichen Artenvielfalt. Die Erde muss wie eine großzügige Mutter respektiert werden, ihre Möglichkeiten und Grenzen müssen akzeptiert werden, und darum auch ihr Rechtsanspruch – ihre Dignitas Terrae – , denn dies ist die Grundlage für die Ermöglichung und Förderung aller anderen persönlichen und sozialen Rechte.
Zwei lateinamerikanische Länder, Ecuador und Bolivien, haben eine wahrhaft ökologische Verfassung formuliert. In dieser Beziehung sind sie allen anderen sogenannten entwickelten Ländern voraus.
Die Montecristi Verfassung der Republik Ecuador von 2008 besagt ausdrücklich in ihrer Präambel: „Wir feiern die Natur, unsere Pachamama, von der wir ein Teil sind und die für uns von existenzieller Wichtigkeit ist.“ Im Folgenden betont sie, dass die Republik „eine neue Form des Zusammenlebens der Bürger gestalten will, in Vielfalt und in Harmonie mit der Natur, um das Gute Leben oder das Sumach Kawsay (die Fülle des Lebens) zu erreichen“. In Artikel 71, Kapitel VII heißt es: „Die Natur, bzw. Pachamama, in der das Leben reproduziert wird und Bewusstsein erlangt, hat ein Recht darauf, dass ihre Existenz in vollem Umfang respektiert wird, ihre Lebenszyklen erhalten und wiederhergestellt werden sowie ihre Evolutionsstruktur, -funktionen und -prozesse; alle Personen, Gemeinschaften, Völker oder Nationen können von den offiziellen Autoritäten verlangen, dass die Natur geschützt wird und dass der Respekt für alle Elemente, die ein Ökosystem bilden, gefördert wird.“
Die Worte der Präambel der Politischen Verfassung des Staates Bolivien, über die im Jahr 2009  abgestimmt wurde, sind bewegend: „In Erfüllung des Mandats unseres Volkes, mit der Stärke unserer Pachamama und in Dankbarkeit vor Gott gründen wir Bolivien neu.“  Artikel 33 lautet: „Die Menschen haben ein Recht auf eine gesunde Umgebung, auf Schutz und auf eine Umwelt, die sich im Gleichgewicht befindet. Die Ausübung dieses Rechts muss jedem Einzelnen und allen Gemeinden der gegenwärtigen und künftigen Generationen, einschließlich anderer Lebewesen, ermöglichen, sich in einer normalen und dauerhaften Weise zu entfalten.“ In Artikel 34 heißt es: „Jede Person, ob als Individuum oder als Vertreter einer Gemeinschaft, hat das Recht, legale Aktionen zum Schutz der Umwelt zu unternehmen.“
Hier haben wir es mit einem wahrhaft ökologischen Konstitutionalismus zu tun, der Form und Gestalt in den genannten Verfassungen annimmt. Solche Visionen sind Vorläufer für alle künftigen Konstitutionen der Menschheit. Nur mit einer solchen Einstellung und Bereitschaft werden wir ein glückliches Geschick auf diesem Planeten gewährleisten können.
Übersetzt von Bettina Gold-Hartnack