Jede Religion, einschließlich des Christentums, hat viele Facetten. Sie haben in Gott ihre Mitte, und gleichzeitig bilden sie Erzählungen über das paradoxe Drama der Menschheit heraus, die Deutungsversuche darstellen und Interpretationen der Wirklichkeit, der Geschichte und der Welt.
Ein Beispiel hierfür ist die Legende über den Hl. Georg und seinen heftigen Kampf mit dem Drachen, den ich im vorigen Artikel nacherzählte. Zuerst einmal war der Drache ein Drache und damit ein schlangenartiges Wesen. Doch eines mit Flügeln und einem riesigen Maul, das Feuer spie und das Rauch und einen tödlichen Geruch verströmte.
Im westlichen Kulturkreis steht die Schlange für das Böse und für die bedrohliche Welt der Finsternis. Im Fernen Osten ist die Schlange ein positiv belegtes Symbol, das nationale Symbol Chinas, der Herrscher des Wassers und der Fruchtbarkeit (long). Bei den Azteken ist die geflügelte Schlange (Quezalcoatl) ein positives Symbol ihrer Kultur. Für uns im Westen ist der Drache immer etwas Schreckliches und repräsentiert die Bedrohungen des Lebens und die großen Schwierigkeiten, um zu überleben. Die Armen sagen: „Ich muss täglich einen Drachen umbringen, so hart ist mein Überlebenskampf.“
Doch der Drache, wie in der psychoanalytischen Tradition C. G. Jungs bei Erich Neumann, James Hillmann, Etienne Perrot u. a. aufgezeigt, steht für einen der ursprünglichsten und kulturübergreifenden Archetypen (strukturelle Elemente des kollektiven Unbewussten oder grundlegende Bilder, die die Psyche strukturieren) der Menschheit.
Und gemeinsam mit dem Drachen wird immer der heldenhafte Reiter dargestellt, der ihn im grausamen Kampf stellt. Was bedeuten diese beide Figuren? Folgen wir den Kategorien C. G. Jungs und seiner Schüler, besonders Erich Neumann, der diesen Archetypus besonders erforschte (Ursprungsgeschichte des Bewusstseins, Patmos Verlag 2004) und der existentiell-humanistischen Psychotherapie Kirk J. Schneiders (The paradoxical self, Humanity Books, 1999), so können wir versuchen zu verstehen, worum es in dieser Begegnung geht. Sie lehrt uns etwas und fordert uns heraus.
Auf dem Weg der Evolution wird die Menschheit vom Unbewussten zum Bewusstsein geführt, von der kosmischen Fusion mit dem Ganzen (Uroboros) zum Aufkommen der Selbständigkeit des Ichs. Dieser Schritt ist, wenn er ganz vollzogen ist, dramatisch: deshalb muss das Ich ihn immer wieder gehen, will es sich der Freiheit und der Selbständigkeit erfreuen.
Es ist wichtig zu erkennen, dass der schreckliche Drache und der heldenhafte Reiter zwei maßgebliche Dimensionen des menschlichen Seins darstellen. Für uns ist der Drache unser althergebrachtes, finsteres Universum, die Schatten, von denen ausgehend wir uns in Richtung des Lichts des Verstandes und der Unabhängigkeit des Ichs bewegen. Nicht ohne Grund sieht man auf Ikonografien, vor allem in denen Kataloniens (dessen Schutzpatron der Hl. Georg ist), wie der Drache den ganzen Körper des Reiters umhüllt. In einer Gravur von Rogério Fernandes (com.br) wird gezeigt, wie der Drache den Körper des Hl. Georg umfasst, diesen mit seinem Arm stützt und sein – ganz und gar nicht bedrohliches – Gesicht auf gleicher Höhe mit dem Gesicht des Heiligen hat. Auf anderen Bilden (auf Google gibt es 25 Seiten mit Abbildungen des Hl. Georg mit dem Drachen) erscheint der Drache als ein gezähmtes Tier, das der Hl. Georg gelassen zu Fuß neben sich führt, und zwar nicht mit einer Lanze, sondern mit einem Stock.
Die Handlung des Helden, in unserem Fall der Hl. Georg in seinem Kampf mit dem Drachen, zeigt die Stärke des Ichs, das sich mutig und erleuchtet durchsetzt und Autonomie erobert, sich jedoch stets in Spannung mit der dunklen Dimension des Drachen befindet. Sie koexistieren, doch niemals beherrscht der Drache das Ich.
Neumann sagt: „Die Handlung des Bewussten ist heldenhaft, wenn das Ich den archetypischen Kampf mit dem Drachen des Unbewussten aufnimmt und für sich selbst vollzieht und dabei zu einer zufriedenstellenden Synthese findet“ (a.a.O. S. 244). Wer sich auf diesen Weg begibt, leugnet den Drachen nicht, sondern behält ihn bei als gezähmten Anteil seiner inneren Schattenseite. Darum tötet der Hl. Georg in den meisten Erzählungen den Drachen nicht, sondern zähmt ihn nur und verweist ihn auf seinen Platz, wo er nicht mehr bedrohlich ist. Dies ist die glückliche Synthese der Gegensätze; das paradoxe Ich findet sein Gleichgewicht, denn es versöhnt sich selbst mit dem Drachen, das Bewusste mit dem Unbewussten, das Licht mit dem Schatten, die Vernunft mit der Leidenschaft, das Rationale mit dem Symbolischen, die Wissenschaft mit der Kunst und der Religion (s. Schneider, S. 138).
Den Widersprüchen entgegenzutreten und das Gleichgewicht anzustreben sind Eigenschaften reifer Persönlichkeiten, die die Dimensionen von Finsternis und Licht integriert haben. Wir finden dies bei Buddha, Franz von Assisi, Jesus, Gandhi und bei Martin Luther King.
Die Cariocas sind große Verehrer des Hl. Georg, den sie noch mehr verehren als den Hl. Sebastian, welcher der offizielle Schutzpatron der Stadt ist. Der Hl. Sebastian ist ein von Pfeilen durchbohrter Krieger und infolgedessen ein Besiegter. Das Volk verspürt die Notwendigkeit eines heiligen Kriegers, der die Feindschaften überwindet. Und der Hl. Georg gibt den idealen Heiligen ab.
Vielleicht ist das denjenigen, die den Hl. Georg verehren, nicht bewusst. Das macht nichts. Ihr Unbewusstes weiß es und aktiviert und verwirklicht sein Werk in ihnen: der Wunsch zu kämpfen, sich als unabhängiges Ich zu behaupten, das sich der Mühsal (dem Drachen) stellt und diese innerhalb eines positiven Lebensprojekts (der Hl. Georg, der siegreiche Held) in sich aufnimmt. Und dadurch gehen sie gestärkt für den Lebenskampf hervor.
Übersetzt von Bettina Gold-Hartnach
Adorei o escrito, você expressou tudo de ótima forma e é bastante divertido acompanhar sua postagem.