Wir feiern den 50. Jahrestag des 2. Vatikanischen Konzils (1962-1965). Dieses steht für einen Bruch mit der Jahrhunderte alten Tradition der römisch-katholischen Kirche. Sie war eine Kirche, die einer belagerten Festung glich und sich gegen alles zur Wehr setzte, was von der modernen Welt kam: Wissenschaft, Technologie und zivilisatorische Errungenschaften wie Demokratie, Menschenrechte und Trennung von Kirche und Staat.
Doch dann kam ein Windstoß frischer Luft durch einen alten Papst, von dem wenig erwartet worden war: Johannes XXIII. (1881-1963). Er öffnete die Türen und Fenster und sagte: Die Kirche kann nicht nur ein ehrwürdiges Museum sein; sie muss für alle ein Zuhause sein, angefüllt mit frischer Luft und ein angenehmer Ort zum Leben.
Vor allem stand das Konzil für ein Aggiornamento, als das Johannes XXIII. es selbst bezeichnete, d. h. eine Aktualisierung und Rekonstruktion ihres Selbstverständnisses und ihres Auftretens in der Welt.
Uns interessiert hier weniger eine Aufzählung der Hauptelemente, die durch das Konzil eingeführt wurden, als die Art und Weise, wie das Aggiornamento von der lateinamerikanischen Kirche und von Brasilien aufgenommen und in die Praxis umgesetzt wurde. Dieser Prozess wird Rezeption genannt und besteht aus einer neuen Lesart und Anwendung des konziliaren Verständnisses vor dem Kontext Lateinamerikas, der sich wesentlich von dem Europas unterscheidet, wo alle Dokumente erarbeitet worden sind. Wir werden nur einige wesentliche Punkte aufgreifen.
Der erste Punkt war zweifellos eine große Veränderung der Atmosphäre, die in der Kirche herrschte: vor dem Konzil war eine strenge Disziplin vorherrschend, die von Rom diktierte Einheitlichkeit und die düstere und antiquierte Form des geistlichen Lebens. Die Kirchen Lateinamerikas, Afrikas und Asiens waren Abbildungen der römischen Kirche. Doch plötzlich begannen sie, sich selbst als eine Quelle der Kirche zu entdecken. Sie konnten ihre Kultur einbringen und neue Sprachen schaffen. Sie strahlten Enthusiasmus und Schaffensfreude aus.
An zweiter Stelle ist eine Neudefinition der sozialen Position der Kirche Lateinamerikas zu nennen. Das 2. Vatikanische Konzil war zwar ein universelles Konzil, doch wurde es aus der Perspektive der überlegenen und reichen Länder geschaffen. Die Kirche der modernen Welt wurde von dort aus definiert. Doch es gab eine Subgesellschaft in Armut und Unterdrückung, die von der lateinamerikanischen Kirche aufgefangen wurde. Die Kirche musste sich vom Mittelpunkt der Menschheit hin zur unmenschlichen Peripherie der Gesellschaft bewegen. Wenn es in dieser Peripherie Unterdrückung gab, musste der Auftrag der Kirche die Befreiung sein. Die Inspiration dazu kam von Papst Johannes XXIII. selbst, der sagte: „Die Kirche gehört allen, doch sie möchte vor allem die Kirche der Armen sein.“
Dieser Wandel fand seinen Ausdruck in den verschiedenen lateinamerikanischen Bischofskonferenzen, von Medellín (1968) bis Aparecida (2007), durch die vorrangige solidarische Option für die Armen und gegen Armut. Diese Option wurde zum Markenzeichen der lateinamerikanischen Kirche und der Theologie der Befreiung.
An dritter Stelle steht die Konkretisierung der Kirche als das Volk Gottes. Das 2. Vatikanische Konzil gab dieser Kategorie einen Platz ganz oben in der Hierarchie. Volk Gottes ist für die lateinamerikanische Kirche keine Metapher; die große Mehrheit der lateinamerikanischen Bevölkerung ist christlich und katholisch und von daher ein Volk Gottes, das unter der Unterdrückung leidet so wie in früheren Zeiten in Ägypten. Von dort aus entstand die Dimension der Befreiung, die die Kirche in all ihren Dokumenten von Medellín (1968) bis Aparecida (2007) offiziell anerkannte. Diese Vision vom Kirchenvolk Gottes ermöglichte das Aufkommen der kirchlichen Basisgemeinden und die soziale Seelsorge.
Viertens verstand das Konzil das in der Bibel enthaltene Wort Gottes als die Seele kirchlichen Lebens. Dies führte zu einem verbreiteten Bibellesen im Volk und zu Tausenden von Bibelkreisen. In diesen Kreisen messen die Christen ihr Leben an der Bibel und ziehen daraus praktische Schlussfolgerungen in einem Umfeld von Gemeinschaft, Teilhabe und Befreiung.
Fünftens öffnete das Konzil sich für die Menschenrechte. In Lateinamerika wurden Menschenrechte zuerst als Rechte der Armen verstanden und damit als erstes als das Recht auf Leben, Arbeit, Gesundheits-versorgung und Bildung. Von da aus lassen sich andere Rechte verstehen wie z. B. das Recht auf Mobilität.
Als 6. Punkt ist zu nennen, dass das Konzil die Ökumene unter den christlichen Kirchen aufgriff. In Lateinamerika konzentriert sich die Ökumene nicht so sehr auf die Unterschiede in der Lehre als vielmehr auf die Unterschiede in der Praxis: Alle Kirchen kämpfen gemeinsam für die Befreiung der Unterdrückten. Es ist eine Ökumene, die eine Mission erfüllt.
Schließlich wurde der Dialog mit anderen Religionen eröffnet, und in diesen wurde die Gegenwart des Geistes wahrgenommen, der bereits vor dem Missionar vor Ort ist. Aus diesem Grund sollten deren Werte respektiert werden.
Letztlich muss anerkannt werden, dass in keinem Kontinent das 2. Vatikanische Konzil so ernst genommen wurde wie in Lateinamerika, wo größere Veränderungen vorgenommen wurden und die Kirche der Armen zur Herausforderung für die Weltkirche und das Gewissen der ganzen Menschheit wurde.
Ûbersetzt von Bettina Gold-Hartnack
Danke, lieber Leonardo Boff
für diesen und viele andere Beiträge. Sie lesend fühle ich ich mich fast contre Coeur – jedenfalls gegen den gleichmachenden Strom in Kirche und Gesellschaft gestärkt und ermutigt. Dabei weisen Sie nur auf das Evangelium.
Ich bin froh dass Sie weiter dranbleiben und ich Sie lesen kann. Ich wünSche Ihnen alles Gute.
Liebe Grüsse aus dem Appenzellerland
Norbert Hochreutener
Lieber Norbert,
Es war eine Freude, Dich hier zu lesen. Ich fahre weiter mit meiner Theologie, die in Verbindung mit dem Volk und auch mit den Fragen der modernen Ökologie erarbeitet werid. Viele Grüsse. Marcia und ich haben noch nicht vergessen, Dich einmal in den Alpen zu besuchen.
Sei herzlich begrüst und begrüse in meinem Namen auch die wunderbaren östereichen Berge.
Leonardo Boff