Die Gesamtheit der Krisen, denen die Menschheit unterworfen ist, zwingt uns zum Anhalten und Bilanz zu ziehen. Dies ist der Moment für alle kritischen Beobachter, denen daran gelegen ist, sich über die konventionellen und selbstbezogenen Reden hinaus Gedanken zu machen.
Warum konnte es zu der gegenwärtigen Situation kommen, die, objektiv betrachtet, die Zukunft menschlichen Lebens und unserer zivilisatorischen Arbeit bedroht? Wir antworten ohne weitere Rechtfertigungen: die Hauptverantwortlichen, die uns auf diesen Weg gebracht haben, sind diejenigen, die in den letzten Jahrhunderten die Macht und das Wissen innehatten und über alles besaßen. Sie wollten die Natur beherrschen, die ganze Welt erobern, sich die Völker unterwerfen, und alles sollte nur ihren eigenen Interessen dienen.
Zu diesem Zweck benutzten sie eine machtvolle Waffe: die Techno-Wissenschaft (Techno-science). Mittels der Wissenschaft fanden sie heraus, wie die Natur funktioniert, und mithilfe der Technologie schufen sie Erfindungen zum Nutzen der Menschheit, ohne an die Konsequenzen zu denken.
Die Herren, die dies taten, waren Westeuropäer. Wir Lateinamerikaner wurden gewaltsam angegliedert, sozusagen als deren Anhang: der “Ferne Westen“.
Im Westen sind die Menschen jetzt allerdings ziemlich ratlos. Sie fragen sich: Wie kann es sein, dass wir uns mitten in der Krise befinden, wo wir doch das beste Wissen, die beste Demokratie, die beste Technologie, die besten Kinofilme, das stärkste Militär und die beste Religion, das Christentum, haben?
Nun werden diese „Eroberungen“ in Frage gestellt, denn trotz ihrer Werte gelingt es ihnen nicht, uns eine hoffnungsvolle Perspektive zu erschließen. Wir ahnen, dass die Zeit des Westens abläuft und schon abgelaufen ist. Aus diesem Grund hat er seine Legitimität und seine Überzeugungskraft eingebüßt.
Arnold Toynbee, der die großen Zivilisationen analysiert, bemerkte folgende historische Konstante: Immer wenn die Antworten den Herausforderungen nicht mehr gerecht werden, geraten Zivilisationen in eine Krise. Sie beginnen, sich aufzulösen bis sie entweder kollabieren oder von einer anderen Zivilisation absorbiert werden. Diese neue bringt erneute Kraft, neue Träume und neue Sinngebung für das persönliche und das gemeinschaftliche Leben. Wer weiß, was kommen wird? Dies ist die Kernfrage.
Was die Krise noch verschlimmert, ist die beständige Arroganz des Westens. Selbst im Verfall bilden sich die Menschen im Westen ein, für alle anderen zwangsläufig richtungsweisend zu sein.
Für die Bibel und die alten Griechen galt dieses Verhalten als schlimme Abirrung, denn es stellt den Menschen auf einen Sockel mit Gott, der als die oberste Instanz oder als Letzte Wirklichkeit angesehen wird. Diese Haltung hat man als Hybris bezeichnet, d. h. als Arroganz und überzogene Selbsteinschätzung.
Es war diese Arroganz, die die Vereinigten Staaten veranlasste, unter falschem Vorwand im Irak zu intervenieren, dann in Afghanistan und zuvor in Lateinamerika, wo sie jahrelang Militätdiktaturen unterstützten und die beschämende Operation Condor durchführten, wodurch Hunderte Staatsoberhäupter lateinamerikanischer Staaten entführt und ermordet wurden.
Mit dem neuen Präsidenten, Barak Obama, erhoffte man, dass ein neuer, eher multipolarer Kurs eingeschlagen würde, der die kulturellen Unterschiede respektiert und Rücksicht auf die schwächsten Glieder der Gesellschaft nimmt. Welch ein Irrtum!
Obama setzt den imperialistischen Kurs in derselben Weise fort wie sein fundamentalistischer Vorgänger Bush. Er hat innerhalb dieser arroganten Strategie nichts Wesentliches verändert. Im Gegenteil: Obama führte etwas Unerhörtes und Verderbtes ein: den nicht-erklärten Krieg durch den Einsatz von „Dronen“, d. h. unbemannten Flugzeugen. Diese werden elektronisch von kalten Räumen in den Militärbasen von Texas aus gesteuert, ermorden einzelne Anführer und ganze Gruppen, die sie für Terroristen halten.
Das Christentum selbst hat sich in seinen verschiedenen Denominationen von der Ökumene distanziert und nimmt fundamentalistische Züge an. Es gibt einen Wettkampf um die größte Anzahl an Gläubigen auf dem Markt der Religionen.
Bei Rio +20 wurden wir Zeugen derselben Arroganz der Mächtigen, die sich weigerten teilzunehmen und auch nur minimale Übereinstimmungen zu finden, um die Krise der Erde zu bekämpfen.
Und dabei geht es uns zutiefst nur um die Verwirklichung einer simplen Utopie, die so gut von Pablo Milanes und Chico Buarque zum Ausdruck gebracht wurde: „Die Geschichte könnte ein fröhlicher Bus voller zufriedener Menschen sein.“
Leonardo Boff ist Verfasser von Zukunft für Mutter Erde, Claudius, München 2012.